Hamid – Eine DeGrasse-Novelle by Stefanie Ross

Hamid – Eine DeGrasse-Novelle by Stefanie Ross

Autor:Stefanie Ross
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
veröffentlicht: 2015-05-13T16:00:00+00:00


12

Obwohl sie beim Blick in den Abgrund ein Zittern unterdrücken musste, hätte sie um nichts in der Welt auch nur eine Sekunde länger gewartet. Sie schaltete die Freisprecheinrichtung ihres Handys ein und verstaute es in der Brusttasche ihres Hemdes, ehe sie die Handschuhe überzog. Azad nickte ihr ermutigend zu, als wäre das nötig. Rückwärts überquerte Cassie die Kante des Abgrunds. Mit den Beinen stützte sie sich an der Felswand ab und erreichte ohne Probleme den Punkt, an dem der Abhang wesentlich flacher abfiel.

»Alles in Ordnung. Wie lief es bei dir?« Azad, der von oben ihr Gewicht gehalten hatte, klang leicht atemlos.

»Kein Problem.«

Sie hatten mit ihrer Einschätzung richtig gelegen, der Neigungswinkel erlaubte mit der zusätzlichen Absicherung durch das Seil das kontrollierte, langsame Hinabrutschen. Azad gab genauso viel Seil nach, dass sie niemals behindert wurde, aber auch nicht zu schnell wurde, denn dann wäre es höllisch schwer gewesen, ihren Sturz zu stoppen. An den abgebrochenen Ästen fand Cassie zusätzlichen Halt.

»Bin unten und sehe mich um.«

Das war leichter gesagt als getan, denn dafür musste sie sich umdrehen. Cassie legte sich flach auf den Bauch und zupfte energisch am Seil, um Azad zu signalisieren, dass sie mehr Bewegungsfreiheit brauchte.

»Was hast du vor?«, erklang es aus dem Handy.

»Wenn ich so am Abhang hänge, sehe ich nichts. Ich weiß schon, was ich tue.«

»Also gut.«

Im nächsten Moment lockerte sich der Druck um ihre Taille. Langsam drehte sich Cassie um, klammerte sich dabei an die Äste, bis sie mit dem Kopf voran in die Tiefe sah. Vor ihr endete der Abgrund. Wie schon auf der Straße schob sie sich langsam vor, bis sie über die Kante in die Tiefe sehen konnte. Der Anblick bohrte sich tief in ihr Herz.

»Verdammte Scheiße«, entfuhr es ihr.

»Was ist?«, kam sofort Azads drängende Frage.

»Wie viel Seil ist da noch?«

Azad schwieg kurz. »Insgesamt sind es fünfunddreißig Meter, ich schätze, wir haben noch zehn Meter übrig. Ich kann vielleicht noch zwei Meter durch Rangieren des Wagens rausholen.«

»Ich glaube, das ist nicht notwendig. Kalil liegt gut fünf Meter unter mir auf einem schmalen Sims, auf dem Rücken. Er rührt sich nicht, seine Augen sind geschlossen«, stieß sie hervor. »Warte kurz.« Cassie schob sich noch ein Stück weiter vor und musterte die Felswand. »Pass auf, die letzten zwei Meter sind glatt, da kann niemand raufklettern, aber darüber findet man genug Halt zum Klettern. Wenn du mich die ersten Meter etwas hältst, springe ich das letzte Stück.«

Sie dachte lieber nicht darüber nach, wie viel Kalil wog. Da es keine andere Möglichkeit gab, musste sie es einfach schaffen.

»Das ist Wahnsinn.«

»Fällt dir was Besseres ein?«

Cassie starrte so konzentriert auf Kalil, dass ihre Augen schon tränten. Da. Endlich: eine winzige, kaum wahrnehmbare Bewegung. »Er lebt«, flüsterte sie mit einer Stimme, die sie nicht als ihre eigene erkannte.

»Was hast du gesagt?«

Cassie räusperte sich. »Kalil hat sich ganz leicht bewegt. Ich gehe jetzt runter. Pass auf, das wird nicht schwerer als vorher, weil ich das letzte Stück springe.«

»Das musst du nicht.«

»Spar lieber deine Kraft und diskutier nicht mit mir.«

Ein letztes Mal prägte sich Cassie die Unebenheiten in den Felsen ein, dann hangelte sie sich rückwärts hinab.



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